Hoch hinaus – und dann? – Warum Katzen gern auf Bäume klettern, aber nicht hinunter

s ist eine jener Szenen, die regelmäßig in Lokalblättern auftauchen und Feuerwehrberichte füllen: Ganz oben im alten Apfelbaum sitzt eine Samtpfote, ihr Schwanz zuckt nervös, ihr verzweifeltes Miauen ist weithin hörbar; unten sammeln sich die Besitzer, Nachbarn und Schaulustige. Einer kramt noch nach Leckerlis, während ein anderer bereits die Feuerwehr ruft. Minuten dehnen sich zu Stunden, bis endlich ein Mann in Neonjacke und Helm die Leiter erklimmt. Das Unglückstier lässt sich mehr oder weniger bereitwillig greifen – und springt, kaum unten angekommen, beleidigt davon, als sei nichts gewesen.
Die Katze, die im Baum festsitzt – das ist kein Kuriosum unserer Zeit, sondern eine fast archetypische Szene – so alt, dass sie schon in japanischen Holzschnitten der Edo Zeit auftaucht. Bereits aus mittelalterlichen Chroniken sind Berichte von Katzen auf Kirchtürmen und Bäumen überliefert, und auch in antiquarischen Zeitungen wie der Illustrated London News des 19. Jahrhunderts findet man Karikaturen von „cat rescues“.
Was wie Slapstick wirkt, ist tatsächlich ein faszinierendes Zusammenspiel aus Anatomie, Instinkt und Kulturgeschichte.
Der Lockruf der Höhe
Warum klettern Katzen überhaupt in Bäume? Es ist nicht nur Fluchtverhalten. Die Höhe bietet einen Aussichtspunkt, von dem aus sich die Umgebung überblicken lässt. Für einen Jäger ist Überblick ein evolutionärer Vorteil. Die Katze sieht mögliche Gefahren, mögliche Beute und kann so von einem sicheren Ort aus in Ruhe ihre nächsten Schritte planen.
Zugleich ist ein Baum für die Katze ein sicherer Rückzugsort. Oben in der Blätterkrone stören keine Hunde, kein Straßenverkehr, keine neugierigen Menschen. Hier kann sie entspannen, schlafen oder einfach in die Ferne schauen. Für manche Katzen ist es schlicht Vergnügen: ein natürlicher Kletterparcours, der Muskeln und Gleichgewicht trainiert und den inneren Tiger befriedigt. Klettern stärkt die Hinterläufe und die Koordination. Junge Katzen betreiben es wie Krafttraining. In einer Studie der Universität Lincoln (UK) wurde gezeigt, dass Freigängerkatzen mit Klettergelegenheiten signifikant weniger Übergewicht hatten und ein besseres Balanceverhalten zeigten als ihre in Wohnungen lebenden Artgenossen. Kurz: Der Baum ist Fitnessstudio, Abenteuerspielplatz, Ruheoase und Aussichtsplattform in einem.
Anatomie: Gebaut für den Aufstieg
Der Aufstieg gelingt der Katze spielend. Katzenkrallen sind sichelförmig nach hinten gekrümmt, ideal zum Hinaufziehen. Ihre kräftigen Hinterbeine katapultieren sie mit Leichtigkeit in Sekundenschnelle nach oben.
Das Problem: So ideal Katzenkrallen fürs Hinaufklettern sind, so nachteilig sind sie beim Abstieg. Wenn die Katze Pfoten voran hinunterklettern will, finden ihre rückwärts gebogenen Krallen keinen Halt. Anders als Eichhörnchen oder Margays (eine südamerikanische Wildkatze) können Katzen ihre Sprunggelenke nicht so weit rotieren, um ihre Krallen seitlich in der Baumrinde zu verankern. Beim Heruntersteigen müsste die Katze also rückwärts klettern wie ein Bergsteiger. Das können manche Katzen, andere weniger. Wer vorwärts kopfüber nach unten will, spürt plötzlich, dass die Krallen nicht mehr greifen. Dazu kommt der psychologische Effekt: Von oben wirkt der Boden weit entfernt, die Äste schwingen im Wind, das Herz klopft. Angst blockiert die Bewegung, also bleibt sie sitzen – manchmal stundenlang, manchmal tagelang. Bis Hunger, Erschöpfung oder ein Retter sie nach unten bringt.
Wilde Vorbilder und ihre Tricks
Bei Wild- und Großkatzen sieht die Sache anders aus. Der Leopard, Inbegriff der kletternden Großkatze, schleppt seine Beute meterhoch in einen Baum und steigt mit behender Eleganz wieder hinunter. Der Margay in Südamerika ist eine wahre Akrobatik-Katze, seine Gelenke drehen sich bis zu 180 Grad, was ihn dazu befähigt, mühelos kopfüber abzusteigen. Auch Luchse nutzen Bäume als Aussichtsplattform und zögern beim Abstieg keine Sekunde. Diese Arten sind an ein Leben in den Bäumen angepasst: Von klein auf trainieren sie die Technik des Vor- und Rückwärtsabstiegs und sind auch anatomisch besser dazu ausgestattet. Selbst die europäische Wildkatze (Felis silvestris) ist beim Abstieg souveräner als die Hauskatze. Der Unterschied liegt in einer Mischung aus Erfahrung, evolutionärer Selektion und Körperbau.
Unsere Stubentiger klettern, weil sie es können, nicht weil sie es müssen – und üben zu wenig, um die Abstiegstechnik zu perfektionieren. Die Hauskatze ist eine Kulturfolgerin. Ihre Vorfahren aus Nordafrika lebten in offenen, buschigen Landschaften am Boden und jagten auch ausschließlich dort ihre Beute. Bäume sind für Katzen gelegentlicher Flucht-, Aussichts- und Trainingsort, aber kein Dauerlebensraum. Darum endet der Ausflug in die Baumkrone oft als Sackgasse.
Drama mit Leitern und Blaulicht
Wenn eine Mieze im Baum festsitzt, ist unten meist die halbe Straße versammelt: Feuerwehrleute in voller Montur steigen Leitern hinauf, Baumpfleger seilen sich von oben ab, Nachbarn halten Decken aufgespannt. Regionale Zeitungen berichten mit Fotos vom „dramatischen Katzeneinsatz“, und in sozialen Medien wird das Spektakel genüsslich geteilt.
Eine amerikanische Studie schätzt, dass Feuerwehren jährlich mehrere tausend „cat-in-tree“-Einsätze fahren. In Deutschland rücken vor allem Baumpfleger aus. Manche Katzenbesitzer engagieren professionelle Kletterer – und zahlen dafür mitunter vierstellige Beträge.
Diese Rettungen haben zugleich etwas Rührendes und Komisches. Die Katze, sonst Sinnbild der Unabhängigkeit, wird zum hilfsbedürftigen Schützling. Doch kaum spürt sie wieder sicheren Boden unter ihren Pfoten, entzieht sie sich dankbarkeitsfrei. Kein Wunder, dass dieses Bild in Comics und Karikaturen so beliebt ist. Schon in der viktorianischen Presse gab es Witzzeichnungen von Katzenrettungen. Ein Motiv, das auch in zahlreichen zeitgenössischen Filmen und Büchern aufgenommen wurde.
Klettern als Katzen-Yoga
Trotz aller Baumdramen empfehlen Tierärzte Klettergelegenheiten für Wohnungskatzen nachdrücklich – ob in Form von Kratzbäumen, Wandbrettern oder Regalen. Klettern hält Sehnen und Gelenke geschmeidig, schult das Vestibularorgan (Gleichgewichtsorgan) und reduziert Stress. Es ist für Katzen eine Art mentales und physisches Yoga.
Das Klettern ist für die Katze also nicht nur Flucht, sondern auch Fitness. Es stärkt ihre Muskeln, schult die Balance und hält sie geistig wach. Junge Katzen klettern besonders gern und üben so spielerisch, was ihnen im Ernstfall das Leben retten kann. Ältere Katzen suchen eher den sicheren Ast zum Dösen.
Wer seine Katze draußen frei laufen lässt, sieht darin vielleicht ein Risiko. Doch für die Katze ist es auch ein Bedürfnis. Sie lebt evolutionsgeschichtlich zwischen Sofa und Savanne, zwischen Heizkörper und Baumkrone. Der Baum ist ein Rest wilden Lebens (Siehe Maunzig-Artikel: „Zahme Haustiere und wilde Jäger“) in einer gezähmten Welt – und die Feuerwehr eben manchmal der Preis für das Abenteuer.
Das paradoxe Wesen der Katze
Die Katze auf dem Baum ist mehr als ein herzergreifendes Motiv – sie ist Sinnbild eines Tieres, das, seit wir denken können, mit uns lebt, aber seine Wildheit nie ganz abgelegt hat. Sie klettert aus Instinkt, Neugierde oder Freude – und bleibt oben sitzen, weil ihre Anatomie und Erfahrung Grenzen haben.
Heute posten Katzenbesitzer Szenen von Feuerwehreinsätzen zur Rettung ihrer in Baum-Not geratenen Lieblinge auf Social Media – zur allgemeinen Erheiterung und ein wenig auch um ihr Leid zu teilen. Doch hinter all dem steht eine viel ältere Geschichte – die von einem Tier, das seit Jahrtausenden zwischen Wildnis und Wohnzimmer pendelt und dabei manchmal in Zwischenwelten steckenbleibt.
Die selbstdomestizierte Katze trägt in ihrem Wesen eine Unabhängigkeit, die selbst Epochen in Gesellschaft des Menschen nicht zu brechen vermochten – und doch müssen wir ihr manchmal eine Leiter halten.
Vielleicht ist es genau diese Mischung aus Wildheit und Hilfsbedürftigkeit, die uns bei der Katze so berührt. Hoch oben in der Baumkrone sitzt nicht nur ein Stubentiger, sondern ein Wesen, das seit altägyptischer Zeit an unserer Seite lebt – und immer noch im Stande ist, uns zum Staunen, Schmunzeln sowie gelegentlich zur Verzweiflung zu bringen.
Schreibe einen Kommentar